28.1.2023

Liebe Freundinnen und Freunde
Diese Woche reiste ich nach Lugano, um den Film Züri brännt zu zeigen und zu diskutieren. Mit von der Partie war Patrizzia Loggia, Kamerafrau vom Opernhaus-Krawall Video 1980. Hier mein Bericht aus einer unruhigen Stadt.

Mit besten Grüssen – Heinz Nigg

(link alla newsletter – av-produktionen.ch)

Lugano brennt

Am Bahnhof in Lugano geniesse ich den weiten Blick über die Stadt. Lugano Tourismus preist deren Vorzüge: optimale Verkehrsverbindungen, hohe Lebensqualität in einer alpinen Landschaft. Mildes Klima, mediterrane Farbigkeit. Lugano ist Handelsknotenpunkt, Sitz zahlreicher internationaler Unternehmen und nach Zürich und Genf der drittgrösste Finanzplatz der Schweiz. Reichhaltiges Kulturprogramm mit dichtem Veranstaltungskalender.

Und doch brannte die Stadt vor zwei Jahren. Die WOZ titelte: Ton, Steine und Scherben in Lugano. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion liess die rechte Stadtregierung das autonome Kulturzentrum Molino abreisen. Das Molino war das autonome Herz des Tessins. Ein Ort für Konzerte, Filme, Diskussionen. Ein Ort auch für alle, die nirgendwo Platz finden. Der Kampf ums Molino hängt eng mit der Entwicklung von Lugano zusammen. Der Kern der Stadt ist ein Hort des Geldes und des Luxus. Da lässt sich heute kaum günstiger Wohnraum finden. Wohnhäuser weichen Bürotürmen. Für alternative Lebensentwürfe bleibt wenig Platz.

Zwei Jahre später bin ich Gast der Molinari. Sie zeigen Züri brännt, den Klassiker unter den Bewegungsfilmen. Dabei ist auch Patrizia Loggia, mit der ich am 30. Mai 1980 das Opernhaus-Krawall Video gedreht hatte. Es macht nun den Auftakt in Züri brännt.

Ich habe den Film schon lange nicht mehr ganz angeschaut. Ich sehe ihn zum ersten Mal mit italienischem Kommentar, charmant gesprochen von Silvano Speranza, dem Autor des legendären Textes. 90 Minuten sind lang für einen Bewegungsfilm. Doch er zieht mich rein, macht Spass. Ich sehe Dinge im Film, die mir früher weniger aufgefallen sind:

Gefährliche Situation in der Innenstadt. Ein grosser Zug von Demonstrierenden wird auf einer Brücke über die Limmat von der Polizei eingekesselt. Auf beiden Seiten stehen die blauen Mannen bereit mit Gummischrot und Tränengas. Wenn es jetzt losgeht, bricht Panik aus. Zu hören ist der Funkverkehr zwischen dem für den Polizeieinsatz verantwortlichen Stadtrat Frick und dem diensthabenden Polizeikommandanten. Nach längerem Hin und Her beschliessen die beiden Männer den Abzug der Einsatzkräfte.

Auch liebe ich die humorvollen Szenen im Film. Ein vor dem Autonomen Jugendhaus AJZ Wache stehender Angestellter einer Sicherheitsfirma erzählt einem Interviewer vom Videoladen leutselig: Ich muss da einfach schauen, dass die Jugendlichen nicht ausflippen, wenn wir das Gelände bewachen. Das gelingt ganz gut. Ich habe null Angst vor ihnen (er zeigt, wie sein Funkgerät funktioniert) und bleibe offen, rede mit ihnen. Das kommt schon gut. Ich bin Familienvater. Da läuft auch nicht alles rund.

Auffallend wie durch den ganzen Film ein Stakkato zu hören ist vom lärmigen Abschuss von Gummischrot und Tränengaspatronen durch die Polizei und von Raketen und Rauchpetarden der Demonstrierenden. Der einprägende Sound der «Bucks» gibt dem Film einen eigenwilligen Rhythmus und die Flut der Eindrücke zusammenhält: schnelle Actions, empörte Gesichter, wütende Schreie, kullerndes Gelächter, vorbeihuschende Streetfighters, sensationelle Medienauftritte und endlose Massendemonstrationen. Ein vielschichtiges Porträt einer Stadt in Aufruhr, einer Gesellschaft im Umbruch.

Das Publikum in Lugano ist begeistert vom Film. Applaus auch nach unserem Filmgespräch, moderiert von Filmemacher Olmo Cerri, übersetzt von Antonio Prata. Patrizia und ich erzählen, wie es in Zürich zur Revolte kam, welche Rolle die eigenen Medien der Bewegung spielten: Zeitungen, Flugblätter, Piratenradio. Und eben auch das damals noch neue Medium Video. Mit Video liessen wir alle zu Wort kommen, auch die kritischen Stimmen. Züri brännt hält der Bewegung einen Spiegel vor: Vieles was damals lief, war nicht gerade cool: die mikrofongeilen Machos an den Vollversammlungen, das Drogenproblem im Autonomen Jugendzentrum AJZ.

Und heute? Wie ist die Situation der Bewegung in Lugano? Zwei Jahre nach dem Abriss des Molino zeigt die Stadtregierung kaum Verständnis für einen selbstverwalteten Kulturbetrieb. Ganz hinten im Tal des Zuflusses zum Lago di Lugano haben sich die Molinari in einem Turm verschanzt wie die Gallier in ihrem Dorf im Reich der Römer. Während drei Monaten veranstalten die Molinari ein buntes Kulturprogramm: La Straordinaria. Ihre Message: Wir sind wieder präsent. Da gibt es Theater, Lesungen, Konzerte, Filme, Kunstausstellungen und Tanzsessions, einen Flohmarkt, Kreativworkshops für Kinder. Ein Lokalradio hat sich in einer Jurte auf kleinstem Raum eingerichtet. Seminare und Debatten finden statt, auch über das kulturelle Leben im Kanton Tessin. Eine Bar steht direkt neben der Bühne. Feines Essen wird serviert.

Was nehmen die Molinari von Züri brännt mit? Ein Jugendlicher meint: Meiner Generation geht es wie euch damals: Wir wollen frei sein, das tun, was uns interessiert, zusammen mit anderen. Doch die Umstände sind anders. Wir müssen einen neuen Umgang mit Medien, mit Kommunikation finden, um uns besser zu vernetzten und als Bewegung zu wachsen. Ein anderer Zuschauer sagt mir nach der Veranstaltung beim Bier: Es fällt uns nicht leicht hier in Lugano die breite Bevölkerung zu mobilisieren. Die Rechte ist in Lugano so mächtig, weil sie die Sprache der einfachen Leute und des wohlhabenden Mittelstands beherrscht.

Die Molinari geben nicht auf. Ein Kollektiv um Olmo Cerri und die Videogruppe REC haben eine 12-teilige Podcast-Serie fertiggestellt: Macerie – Schutt. Eine Auseinandersetzungen der letzten 25 Jahre um selbstverwaltete Kulturräume. Es ist eine vielstimmige und leidenschaftlich vorgetragene Geschichte mit offenem Ende. Arrivederci Lugano bella!